Aufbewahrungsorte

Für die Erschließung der mittelalterlichen Musikfragmente der ÖNB mussten ver­schiedene Sammlungen und Kataloge durchsucht werden. Die Fragmente befinden sich, je nachdem, ob sie schon ausgelöst oder noch als Einbandmaterial in Verwendung sind, an verschiedenen Orten.
Die Handschriftensammlung der ÖNB besitzt einige tausend mittelalterliche Fragmente. Spätestens seit dem 19. Jahrhundert wird aus Büchern ausgelöstes Bindematerial in Form von Falzen, Spiegelmakulaturen, Vor- oder Nachsatzblättern oder vollständigen Einbänden (Koperteinbänden) gesammelt. Im Jahr 1865 hat man begonnen, einige herausragende Stücke in die Supplementes-Signaturen einzureihen, später in die Handschriftenreihe Series nova (Cod. Ser.n.). Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde ein großer Teil der übrigen Fragmente mit einer eigens dafür geschaffenen Fragmentnummer (Fragm.) versehen und in einem handschriftlichen Fragmentbuch erfasst. In diesem Buch sind je Fragmentfaszikel nur die Quellenart und der ungefähre Entstehungszeitpunkt verzeichnet. Zudem gibt es noch heute einige hundert Fragmente, die nicht mit einer Nummer und Grundbeschreibung erschlossen sind.
In der Sammlung von alten Drucken der ÖNB, die heute mit der Handschriftenabteilung zu einer Sammlung vereint ist, befanden sich einige Dutzend aus Inkunabeln und Postinkunabeln ausgelöste Handschriftenfragmente. Dieser Bestand wurde 2010 in die Fragmentsammlung der Handschriftensammlung abgegeben.
Die Musiksammlung der ÖNB besitzt ebenfalls eine kleine Anzahl an mittelalterlichen Musik­fragmenten. Diese sind grundlegend im Katalog der Musiksammlung dokumen­tiert und am Signatur-Präfix Mus erkennbar.
Noch heute befinden sich unzählige Fragmente in der Funktion als Einbandmakulatur in Hand­schriften und Drucken der ÖNB. Viele davon wurden bereits in den Vorbesitzer-Institutionen eingebunden. Aber auch in der Hofbibliothek selbst wurden noch am Ende des 17. Jahrhunderts Handschriften zerlegt und die Blätter als Koperteinbände ver­wen­det.
Mondseer Bestände außerhalb der ÖNB Handschriften, Inkunabeln und Postinkunabeln aus der ehemaligen Klosterbibliothek Mondsee sind auch im Oberösterreichischen Landesarchiv, in der Oberösterreichischen Landesbibliothek und der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz (ehemals Bibliothek des Priester­seminars) erhalten. Zu diesen Beständen gehören auch Fragmente (eingebundene wie auch aus­gelöste), die in dieser Datenbank berücksichtigt worden sind. Diese Bestände ergänzen sich mit denen der ÖNB (vielen Dank für die Erlaubnis zur Veröffentlichung der Bilder an die oben genannten Linzer Bibliotheken!).

Suche nach den Fragmenten

Die Suche nach mittelalterlichen Musikfragmenten der ÖNB gestaltete sich unter­schiedlich schwierig und ist je nach Aufbewahrungsort auch in unterschiedlicher Qualität durchgeführt worden. Am besten zugänglich sind die Quellen der Fragment­sammlung, die vollständig durchsucht werden konnte. Fragmente aus diesem Bestand, die noch über keine Signatur verfügt haben, wurden im Laufe der Erschließung mit einer neuen Fragmentnummer versehen. Dieser Bestand macht mit etwa 280 Signaturen knapp die Hälfte der rund 600 erfassten Musikfragmentfaszikel der ÖNB aus. Problematisch an diesem Bestand ist das häufige Fehlen von Hinweisen auf den ehemaligen Trägerband. Erst im 20. Jahrhundert wurden durchgehend die Signaturen der Bücher vermerkt, in denen die Fragmente vormals als Bindematerial in Verwendung gewesen sind. Vor allem bei Koperteinbänden helfen Originaltitel oder -signaturen auf den ehemaligen Buchrücken oder den Spiegeln, Trägerbände lokalisieren zu können. Leider haben sich im Laufe der Zeit die Signaturen der Hof- und Nationalbibliothek mehrmals geändert, das Auffinden von Trägerbänden ist somit nicht immer möglich. Die 13 ausgelösten Fragmente der Musiksammlung sind im Onlinekatalog der Musiksammlung auffindbar und konnten vollständig erfasst werden.
Die Recherchen nach noch nicht ausgelösten Fragmenten in Handschriften und Drucken konnten nicht mit der gleichen Intensität durchgeführt werden, wie es bei jenen der Fragment- und Musiksammlung. Die Handschriftensammlung besitzt einige zehn­tausend Codices, in denen sich Fragmente befinden könnten. Ferner sind bis in das 17. Jahr­hundert hinein regelmäßig Fragmente in Inkunabeln und Postinkunabeln zu finden. Die ÖNB besitzt etwa 8.000 Frühdrucke und an die 108.000 Drucke von 1501 bis 1700. Diese hohe Anzahl an möglichen Trägerbänden macht eine vollständige Erschließung unmöglich.
Für den Bereich der Handschriften versuchte sich der Bibliothekar Constantin Schneider bereits 1928 an einem vollständigen Katalog aller Musikalien. In dem handschriftlichen Katalog (Cod. Ser.n. 46.902–46.912) wurden 1975 Quellen in 1619 verschiedenen Codices vom 9. bis zum 19. Jahrhundert erfasst. Dieser Bestand beinhaltet unter anderem musiktheoretische Werke, Abbildungen von Musikern bzw. Musik­instrumenten, Opernlibretti usw. (eine Datenbank mit dem Katalog Schneiders steht auf der Projekt­homepage zur Verfügung). Die Qualität der Be­schreibungen ist ungenügend, das Auffinden der Musikalia an sich stellt jedoch eine nicht hoch genug einschätzbare Leistung dar. Anhand der Angaben in Schneiders Katalog konnten etwa 220 Fragmente im Bestand der vollständigen Handschriften der ÖNB ausfindig gemacht werden.
Für das kunsthistorische Erschließungsprojekt Mitteleuropäische Schulen (FWF Einzelprojekt P19684), das am Otto-Pächt-Archiv der Universität Wien angesiedelt ist, wurde auf der Suche nach besonderem Buchschmuck der Inkunabelbestand der ÖNB durchgesehen und punktuell detailliert dokumentiert. Anhand der von Amand Tif durchgeführten Arbeiten konnten weitere 26 Fragmente mit musikalischer Notation aus­findig gemacht werden. Eine systematische Suche nach Musikfragmenten im Bereich der Postinkunabeln ist unmöglich, die Anzahl an Büchern ist viel zu groß. Trotzdem konnten mittlerweile 20 Bücher mit relevanten Resten von Musikhandschriften gefunden werden. Die für den Prunksaal verantwortlichen Mitarbeiter der ÖNB Anton Knoll und Josef Habusta sind ständig auf der Suche nach neuen Fragmentblättern.
Für das Auffinden von 46 Musikfragmenten im Bestand der Series nova, die am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Fragmentsammlung ausgegliedert worden sind, standen moderne Kataloge (Mazal SN 1-5) bzw. eine Datenbank (Hanna) zur Verfügung.

Provenienz der Fragmente

Der historische gewachsene Buchbestand der ÖNB ist sehr inhomogen. Neben dem Kern der Sammlung, der aus den verschiedenen Buchsammlungen der Habsburger besteht, wurden im Laufe der Jahrhunderte immer wieder größere Bibliotheken in den Bestand der Hofbibliothek eingereiht. So konnte unter anderen ein Großteil der alten Universitätsbibliothek und die alte Stadtbibliothek Wien übernommen werden. Viele Handschriften und Bücher kamen während der Klosteraufhebungen am Ende des 18. Jahrhunderts nach Wien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde ein Teil der bedeutenden Domkapitelbibliothek Salzburg in den Bestand der Hofbibliothek einge­gliedert. Der geografische Schwerpunkt der Vorbesitzer-Provenienzen der Handschriften und alten Drucke liegt natürlich auf dem Gebiet der österreichisch-ungarischen Monarchie. Ein weitaus kleinerer Teil stammt aus Ländern des restlichen Europas. Die Trägerband-Provenienz ist häufig identisch mit der der eingebundenen Fragmente. Zusätzlich konnten für zahlreiche Quellen Lokalisierungen anhand von charakteris­tischem Buchschmuck, paläografischen und kodikologischen Merkmalen sowie musikwissenschaftlich-liturgischen Ge­sichtspunkten durchgeführt werden.

Beschreibung der Erschließungsarbeiten

In einem ersten Arbeitsschritt wurden die Fragmente anhand der Signaturen in einer Datenbank erfasst. Ausgelöste Makulatur kann eine Fragment- (Fragm.), Musik- (Mus.) oder eine Series Nova-Signatur (Cod. Ser.n.) führen. Die eingebundenen Fragmente wurden mit dem Code des Trägerbandes inventarisiert (Handschriften: Cod. bzw. Cod. Ser.n., Inkunabeln mit einer Signatur mit Ink-Präfix, spätere Drucke in der Regel mit dreiteiligen Kombinationen wie 15.F.2). Anschließend wurden die Musikfragmente digitalisiert, vermessen und mit einem Bild­bearbeitungsprogramm nachbearbeitet. Anhand der Fragmentabbildungen konnten die Daten­sätze um grundlegende Informationen ergänzt werden. Falls bekannt stehen folgende Daten für alle Fragmente zur Verfügung: Signatur (Signatur Trägerband), Provenienz, Buchgattung (Codex), Entstehungszeit, Notation, Umfang, Größe, Spalten, Buchschmuck, Inhalt (Feste), zusätzliche Kommentare und Gruppenzugehörigkeit.
Sukzessive werden vollständige Gesangsinventare der überwiegend liturgischen Fragmente angefertigt. Wie in den Vorbemerkungen erwähnt, führen die Arbeiten Musikstudenten der Uni­versität Wien durch. Grundlage für die Gesangslisten sind der von CANTUS festgelegte Standard zur Inventarisierung von Offiziumshandschriften und eine sich daran orientierende Form für die Beschreibung von Messhandschriften. Sonderoffizien, Sequenzen, Hymnen und Tropen werden anhand der gängigen Referenzquellen klassifiziert (LMLO, AH und CT).
Ein weiterer Schritt zur Beschreibung des Musikfragmentbestandes ist der Versuch, möglichst viele getrennt aufbewahrte Blätter wieder zu zusammengehörenden Gruppen zu vereinen, sie also in den kodikologischen und liturgischen Zusammenhang zu bringen, in dem sie sich vor der Makulierung befunden haben. Aus diesem Grund wurden alle Fragmente nach verschiedenen Kriterien kategorisiert. Grundsätzlich werden die Quellen nach Art ihrer Notation unterschieden: linienlose Neumen­notation (NN), frühe Liniennotationen (FLN), Graner Notation (Gran), Zisterziensernotation (ZN), gotische Notationen (GN), böhmische gotische Notation (BGN), Quadratnotation (QN) und Mensuralnotation (MN). Auf der nächsten Ordnungsebene folgt die Unterscheidung in Mess- und Offiziumshandschriften, dann die Einteilung in Missale, Graduale, Sequentiar … (Messe) oder Brevier, Antiphonar, Hymnar … (Offizium). Innerhalb dieser Untergruppen folgt die Trennung nach Spaltenanzahl und Entstehungszeit. Diese Art und Weise der Kategorisierung hat sich als sehr effektiv erwiesen und ist rein paläografischen Methoden deutlich überlegen. Der auf den ersten Blick unübersichtliche Fragmentbestand der ÖNB konnte mit der gerade beschriebenen Vorgehensweise geordnet und bisher 30 Fragmentgruppen wiedervereinigt wer­den. Die Gruppenbezeichnungen setzten sich aus der Notationsart, dem Buchtypus und einer fortlaufenden Nummer zusammen (z.B. FLNA1 frühe Liniennotation Antiphonar 1, GNG3: gotische Notation Graduale 3).
Die Ergebnisse der Erschließung des Musikfragmentbestandes der ÖNB werden in einer online verfügbaren und auf verschiedene Arten recherchierbaren Datenbank der wissen­schaftlichen Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Neben den Grundin­formationen und den Gesangsinventaren können von allen Fragmenten bzw. Fragmentgruppen Abbildungen online betrachtet werden.

Aufbau der Fragmentbeschreibungen

Die Beschreibung der Fragmente orientiert sich an in der Musikwissenschaft üblichen Standards. Inventarisiert wurden Gesänge und Rubriken, jedoch keine Lesungen oder Gebete, die in Brevieren oder Missalien zu finden sind. Ferner ist es für diese Art der Fragmentbeschreibungen ausreichend, bekannte Gesänge, die bereits in den einschlägigen Referenzquellen dokumentiert sind, nur als Incipit wiederzugeben (z.B. CANTUS, CANTUS-ECE, LMLO, AH, CT und Graduale Romanum). Offiziumsgesänge werden mit den cao-Nummern R.-J. Hesberts klassifiziert. Wenn keine passende cao-Nummer existiert, die CANTUS-ID. Angaben aus den AH werden immer in der Folge Band-Nummer angegeben. In der Konkordanzspalte befinden sich die Abkürzungen für die 12 Referenzquellen Hesberts (vgl. Abkürzungen). Fehlende Rubriken für die Festbezeichnung wurden in eckigen Klammern notiert, ebenso fehlende Textteile von Gesängen. Als Größenangaben sind die Gesamtdimensionen der Fragmente angeben (in Millimeter, weitere Details sind an den mit Maßstab fotografierten Fragmentabbildungen ablesbar). Wenn nicht anders angegeben, handelt es sich grundsätzlich um Pergamentfragmente. Auf Inhaltsangaben zu den Trägerbänden wurde verzichtet, da diese in der Regel in keinem Zusammenhang mit den Fragmenten stehen. Ebenfalls wurde auf die Auflistung von Sekundär­literatur verzichtet, die sich ausschließlich auf den Inhalt des Trägerbandes bezieht.
Durch die Veröffentlichung sowohl der Kurzbeschreibungen, der Gesangsinventare und vor allem auch der Abbildungen aller Fragmente soll ein nur wenigen Spezialisten bekannter Quellen­bestand einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und Grundlage für weiter­gehende Forschungen sein. Die Ausführungen erheben in keiner Weise Anspruch auf Voll­ständigkeit und Letztgültigkeit.
Neben der oben genannten Publikation mit einer Auswahl an besonderen Fragmenten sind zwei weitere gedruckte Publikationen in Arbeit. In einer der mittelalterlichen Liturgie- und Musik­geschichte gewidmeten Monographie über das Kloster Mondsee soll der sehr umfangreiche Fragmentbestand des Michaelklosters ediert werden. Für die zahlreichen Fragmente aus Ungarn (Erzdiözese Esztergom) ist ein Faksimileband in Planung.